1. Videospiele im heimischen Wohnzimmer

Iwata:

Heute werde ich mich mit zwei erfahrenen Experten der Videospielebranche unterhalten. Am 13. September war der 25. Jahrestag der Veröffentlichung von „Super Mario Bros.“ Dank der fortdauernden Unterstützung der Serie durch ihre zahlreichen Fans macht Mario auch ein Vierteljahrhundert nach seinem ersten Erscheinen noch Furore. Derzeit läuft bei Nintendo eine Kampagne zum 25-jährigen Jubiläum, mit der wir uns bei allen bedanken möchten, die dem Spiel im Lauf der Jahre ihre Unterstützung haben zukommen lassen. Im Zuge dieser Kampagne möchte ich Sie beide darüber befragen, was Ihnen durch den Kopf ging, als Sie die Erschaffung von Mario miterlebten. Sie sind beide langjährige Mitarbeiter des Unternehmens, die bereits bei Nintendo waren, als dieses in einer überraschenden Fügung des Schicksals von einer Spielkartenfirma zu einem Spielzeugunternehmen wurde, dann in das Feld der Elektronik vorstieß und sich schließlich in ein Videospielunternehmen verwandelte. Ich finde, dieser Wandel muss auf die eine oder andere Weise für zukünftige Generationen aufgezeichnet werden, denn ich halte ihn für historisch bedeutsam. Daher habe ich Sie beide zu dieser Sitzung von „Iwata fragt“ gebeten.

Imanishi:

Na, da erwarten Sie ja allerhand von uns! (lacht)

Iwata:

Allerdings. (lacht) Vielen Dank, dass Sie mitmachen.

Imanishi undUemura:

Vielen Dank für die Einladung.

Iwata:

Als das Famicom (kurz für „Family Computer“, japanische Entsprechung des Nintendo Entertainment System) herauskam, stand Mr. Imanishi dem General Affairs Department vor; später wurde er dann General Manager der Corporate Communications Division. Mr. Uemura war verantwortlich für die Hardware-Entwicklung. Das gelbe Super-Mario-Steckmodul für die dunkelrot-weiße Konsole hält in Japan bis heute den Rekord für die am meisten verkauften Exemplare.

Iwata Asks
Imanishi:

Tatsächlich?

Iwata:

Was die Anzahl verkaufter Spielkonsolen angeht, hat der Nintendo DS das Famicom inzwischen überholt, und von Wii Sports1 wurden weltweit mehr Exemplare verkauft, aber bei der Anzahl einzelner Exemplare eines Spiels, die auf dem japanischen Markt verkauft wurden, liegt „Super Mario Bros.“ noch immer weit vor allen anderen Spielen. 1 Wii Sports: Ein Sportspiel, das Simulationen von Tennis, Golf, Bowling, Baseball und Boxen umfasst. In Japan wurde das Spiel zeitgleich mit dem Erscheinen der Wii-Konsole im November 2006 veröffentlicht. In Europa wurde es mit der Wii-Konsole gebündelt, die im Dezember 2006 in den Handel kam.

Imanishi:

Aha.

Uemura:

Das ist ja umwerfend.

Iwata:

Mr. Uemura, ich würde Sie gerne zunächst zur Entstehung des Famicom befragen. Wie kam es zu dessen Entwicklung?

Uemura:

Das ist eine lange Geschichte …

Iwata:

Das habe ich mir schon gedacht! (lacht)

Uemura:

Was für eine Aufgabe! (lacht) Hmm … Wo fange ich denn an? Das Ganze begann wohl damit, dass mich der frühere Nintendo-Präsident Mr. Yamauchi zu Hause anrief. Das ist kein Witz. Er sagte, dass die guten Umsätze der „Game & Watch“2-Serie nicht andauern würden. 2 Game & Watch: Serie, die 1980 mit der Veröffentlichung von „Ball“ begann und es bis zu ihrer Einstellung 1984 auf 59 Titel brachte; weltweit wurden 43,4 Millionen Spiele verkauft.

Iwata Asks
Iwata:

Damals war „Game & Watch“ das Hauptprodukt von Nintendo.

Uemura:

Genau. Mr. Yokoi3 war damals Leiter des Research & Development Department 1, das „Game & Watch“ entwickelte. Die Anzahl seiner Mitarbeiter nahm zu. Mir unterstand dagegen das Research & Development Department 2, dessen Mitarbeiterzahlen zurückgingen. Ich war also nicht gerade überarbeitet und konnte abends recht früh nach Hause gehen. (lacht) 3 Gunpei Yokoi (1941-1997): Während seiner Zeit bei Nintendo spielte er eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Produkten wie den elektronischen „Game & Watch“-Spielen für Handhelds, dem Game Boy-Handheld-System, dem R.O.B. (Robotic Operating Buddy), und dem Spiel „Dr. Mario“.

Iwata:

Obwohl Sie einer ganzen Entwicklungsabteilung vorstanden? (lacht)

Uemura:

Ja. (lacht) Aber es gab wirklich nichts zu tun! Ich habe mich sogar gefragt, ob Mr. Yamauchi mich aus diesem Grund angerufen hat. Er sagte, der nächste große Knüller wären Videospiele für den heimischen Fernseher, und fragte, ob meine Abteilung bereit wäre, diese zu entwickeln. Allerdings gab es solche Spiele bereits seit einiger Zeit.

Iwata:

Selbst Nintendo hatte bereits „TV Game 6“ und „TV Game 15“ 4, herausgebracht, die anstelle externer Steckmodule über integrierte Spiele verfügten. 4 „Color TV Game 6“ und „Color TV Game 15“: Veröffentlicht in Japan im Juli 1977. Die Konsolen umfassten je 6 bzw. 15 Spiele wie Tennis oder Pingpong.

Uemura:

Mir war bewusst, dass es sich um eine Erweiterung dieser Spiele handeln sollte, aber Mr. Yamauchi stellte diverse Bedingungen. Die Spiele sollten nicht integriert sein, sondern eine entsprechend angepasste Form des Steckmodulsystems verwenden, das sich damals gerade zur vorherrschenden Methode entwickelte. Außerdem forderte er mich auf, ein Gerät zu entwickeln, dass drei Jahre lang konkurrenzlos sein würde.

Iwata:

Wow, das hat er schon ganz am …

Uemura:

Daran ließ er von Anfang an keinen Zweifel.

Iwata:

Aber die Konkurrenz drei Jahre lang auf Abstand zu halten, ist ja eine Wahnsinnsaufgabe ...

Uemura:

Geradezu unvorstellbar, nicht wahr?

Iwata:

Na ja, Nintendo hatte ja schließlich keine Geheimwaffe parat; aus der Sicht eines Technikers dürfte es tatsächlich unmöglich gewesen sein.

Uemura:

Stimmt. Aber selbst wenn ich meine Einwände vorgebracht hätte – er hätte mir sowieso nicht zugehört. (lacht)

Iwata:

(lacht)

Uemura:

Damals hatte Nintendo mit „Game & Watch“ einen Wettbewerbsvorteil, und ich sollte jetzt dieselbe Situation im Bereich der Videospiele für zu Hause schaffen.

Iwata:

Aber um für eine Weile einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen, muss man sich bei der Produkteinführung ganz schön aus dem Fenster lehnen und vielen Leuten das Gefühl vermitteln, dass es eigentlich noch viel zu früh für diese Entwicklung wäre.

Iwata Asks
Uemura:

Das stimmt. Außerdem wurden Computer von Halbleiterunternehmen hergestellt, und die konnte ich ja nicht bitten, extra für uns etwas Hochwertigeres herzustellen. Wie man die Sache auch betrachtete – mir war klar, dass es kein einfaches Unterfangen werden würde. Und Nintendo war ja quasi das letzte Unternehmen, das in den Markt für Videospiele mit Steckmodul vorstieß.

Iwata:

Eine Reihe von anderen Unternehmen verkauften bereits Videospielkonsolen für den Heimsektor.

Uemura:

Ja. Aber ich hatte ja Zeit – und einen Auftrag von Mr. Yamauchi. Mir blieb also gar nichts anderes übrig, als zuzustimmen. (lacht)

Iwata:

(lacht) Wann in etwa fand dieses Gespräch statt?

Uemura:

Im November 1981.

Iwata:

Oh, im Jahr nach dem Erscheinen von „Game & Watch“.

Uemura:

„Game & Watch“ machte sich wirklich gut.

Iwata:

Und trotzdem gab er bereits die nächste Stufe in Auftrag.

Uemura:

Genau. Und er wollte das Ganze bis Mitte 1982 haben. Wie sollte ich das in derart kurzer Zeit anstellen?!

Iwata:

Sie mussten ja schließlich ganz von vorn, nur ausgehend von einem integrierten Schaltkreis beginnen. Übrigens – 1982 fand mein erster Schritt ins Berufsleben statt. (lacht)

Imanishi:

Oh, wirklich? (lacht)

Uemura:

Ich habe mich dann entschlossen, es zu versuchen, und begann Nachforschungen zu Heim-Videospielen anzustellen. Aber dann stellte Mr. Yamauchi eine weitere Bedingung: Er sagte, dass wir dabei nicht mit Sharp zusammenarbeiten könnten.

Iwata:

Oh …

Uemura:

Das war ein Schlag ins Kontor. (lacht) Ich hatte nämlich vorgehabt, mit Sharp zusammenzuarbeiten.

Iwata:

Sie hatten bei Sharp gearbeitet, bevor Sie zu Nintendo kamen. Wir hatten für „Game & Watch“ eine Beziehung mit dem Unternehmen aufgebaut; es wäre also nur logisch gewesen, mit Sharp zusammenzuarbeiten, nicht war?

Uemura:

Ja. Aber er hatte einen ganz einfachen Grund für seine Bitte – denn wenn wir die Leute von Sharp gebeten hätten, sich in diese Sache reinzuhängen, hätten sie keine „Game & Watch“-Spiele mehr machen können.

Iwata Asks
Iwata:

Oh, stimmt. Das wäre wahrscheinlich nicht gegangen.

Uemura:

Eben. Mir war klar, dass er Recht hatte, also begann ich, mich nach anderen möglichen Unternehmen umzusehen, und nahm Kontakt zu zahlreichen großen Elektronikherstellern auf – aber sie lehnten alle ab.

Iwata:

Warum das denn?

Uemura:

Der offizielle Grund war, dass gerade eine große Produktionssteigerung beim RAM für Textverarbeitungssysteme und PCs bevorstand und dass sie daher kein freies Team zur Verfügung hatten, das sich mit einem so unbekannten Produkt wie Videospielen hätte befassen können. Aber ich glaube, eine ehrliche Antwort hätte eher gelautet: „Wir haben keine Ahnung, was wir da tun sollen“, „ Wir verstehen nicht so ganz, was Sie eigentlich wollen“ oder „Ich glaube nicht, dass Nintendo etwas Derartiges entwickeln kann.“ Das waren wohl die wahren Gründe.

Iwata:

Damals wusste ja noch niemand, zu was für einer Art von Produkt Videospiele sich schon bald entwickeln würden, was sie für ein Potenzial und für einen Marktumfang haben würden.

Uemura:

Genau. Und dann, gerade als ich wirklich nicht mehr weiter wusste, erhielt ich einen Anruf von Ricoh.