3. Die Welt zeigen

Iwata:

Street View ist nicht nur nützlich, um Wegbeschreibungen zu erhalten, sondern es macht auch Spaß, sich weit entfernte Orte anzusehen, an die man nicht so schnell gelangen kann, und auch die Orte, die man gut kennt.

Kawai:

Ja. Die meisten Leute schauen sich zuerst ihr eigenes Zuhause an, dann den Ort, wo sie früher einmal gelebt haben, dann die Häuser ihrer Freunde, oder z. B. ihre Universität.

Iwata:

Neben den Straßen gibt es ja auch berühmte Orte wie das NASA-Zentrum oder den Meeresboden zu sehen. Wie wählen Sie diese Orte aus und wie integrieren Sie ihre Erfassung?

Iwata Asks
Kawai:

Das ist so ähnlich wie bei unserer Ausgangsidee. Kurz gesagt ist das einfach eine spontane Inspiration. Wir machen einfach das, was wir für interessant halten, und wenn das den Leuten da draußen gefällt, arbeiten wir eine noch bessere Version aus. Das ist vielleicht so ähnlich wie bei Videospielprojekten.

Iwata:

Es geht in eine ähnliche Richtung.

Kawai:

Wenn wir es selber nicht interessant finden, dann können wir damit auch unsere Partner und die Benutzer nicht inspirieren, und dann wird auch nichts daraus.

Iwata:

Egal welches System Sie sich dafür einfallen lassen, es ist doch sehr harte Arbeit, ständig so viele Dinge zu fotografieren.

Kawai:

Beim Space-Shuttle war es z. B. so, dass ja die meisten Leute im Kindesalter eine besondere Faszination für den Weltraum haben. Unser Gedanke war: "Wäre es nicht interessant, wenn man diese Orte von überall auf der Welt betrachten könnte?" Wir haben es umsetzen können, weil die Leute bei der NASA unsere Begeisterung gespürt haben und gesagt haben: "Das ist eine gute Idee! Bitte, machen Sie weiter damit!"

Iwata:

Sie haben kooperiert, weil sie den Wert darin erkannt haben, alles auf diese Art zu dokumentieren und anderen Leuten zeigen zu können.

Kawai:

Beim Weißen Haus15 war es auch so. Es gab schon immer Führungen, bei denen sich die Leute alles anschauen konnten, aber es kann ja immer nur eine begrenzte Anzahl an Leuten dabei sein, und daher war das Weiße Haus schnell überzeugt von der Idee, sich über das Internet auf diese Art zugänglich zu machen.15. Weißes Haus: Der offizielle Wohn- und Regierungssitz des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika in Washington D.C.

Iwata:

Google Street View ist das perfekte Werkzeug, um das Erlebnis virtueller Führungen für viele Leute zugänglich zu machen.

Kawai:

Aus diesem Grund haben wir auch Museen auf der ganzen Welt um ihre Kooperation gebeten, wie z. B. das Musée d'Orsay16, um über Street View einen Blick ins Innere der Museen werfen zu können17. Amit Sood18 aus Indien sagte uns: "Ich bin in einem armen Dorf geboren worden, deshalb hätte ich mir als Kind nie vorstellen können, mal so ein tolles Museum besuchen zu können. Aus diesem Grund möchte ich ab jetzt die Technologie so nutzen, dass wir eine Welt aufbauen, in der alle Menschen einen einfachen Zugang zur Kunst haben können, egal wer und wo sie sind." Aus diesem Wunsch entstand dann dieses Projekt.16. Musée d'Orsay: Ein Kunstmuseum in Paris, in dem hauptsächlich Kunst aus dem 19. Jahrhundert ausgestellt ist.17. Street View im Inneren von Museen: Damit ist das Google Art Project gemeint, ein Service, der virtuelle Touren durchs Innere von über 180 Kunstmuseen in 40 Ländern auf der ganzen Welt anbietet. Seit Dezember 2012 können die Benutzer so ca. 35.000 Kunstwerke mit eigenen Augen erleben, z. B. Gemälde, Skulpturen, Straßenkunst und Fotografien.18. Amit Sood: Product Manager bei Google. Er ist verantwortlich für das Google Art Project.

Iwata:

Er möchte den Kindern berühmte Kunstwerke näherbringen, denen es so ähnlich geht wie ihm, als er noch klein war.

Kawai:

Das stimmt. Es ist natürlich besonders beeindruckend, wenn man persönlich vor Ort ist, aber das Erlebnis über Street View bietet schon auch eine Menge.

Iwata Asks
Iwata:

Wenn ich Sie so reden höre, bekomme ich den Eindruck, dass es zu immer neuen Projekten führen wird, wenn nach und nach sehenswerte Orte auf der ganzen Welt erfasst werden; so in etwa: "Das war toll, wie wäre es denn jetzt damit?"

Kawai:

So hat sich Street View auch intensiv mit dem großen Erdbeben in Ost-Japan beschäftigt.

Iwata:

Nach dem Erdbeben war die Google-Zweigstelle in Roppongi (in Tokio, Japan) rund um die Uhr damit beschäftigt, sich mit der Katastrophe zu befassen.

Kawai:

Richtig. Zu diesem Zeitpunkt hat Google alle laufenden Projekte, an denen wir beteiligt waren, auf Eis gelegt und gesagt: "Wir sollten jetzt da tun, was wir können." Dann haben sie sich darauf konzentriert, den Betroffenen zu helfen. Web-Development kann ja in sehr kurzer Zeit gemacht werden, wenn es also Elemente gab, die wir für hilfreich gehalten haben, haben wir sie innerhalb von drei bis vier Tagen entwickelt und sofort veröffentlicht.

Iwata:

Ich habe gehört, dass Sie wirklich sehr schnell gearbeitet haben, um den Bedarf der Leute abzudecken, indem Sie sich einfach angeschaut haben, welche Services besonders häufig genutzt worden sind.

Kawai:

Richtig. Als dann der Sommer kam, haben wir uns gefragt, was wir als Nächstes machen könnten. In den Medien wurde oft vorgeschlagen, dass wir das Katastrophengebiet fotografieren und über Street View zeigen sollten. Das Katastrophengebiet war aber nicht auf einen bestimmten Bereich beschränkt, sondern es handelte sich um eine wirklich große Region. Deshalb konnten normale Kamerateams nicht alles erfassen, aber alle dachten, dass es mit Street View gehen könnte.

Iwata:

Einfach gesagt ist Street View ja so angelegt, dass dabei automatisch aus dem Auto in alle Richtungen fotografiert wird.

Kawai:

Wir haben uns aber Sorgen darüber gemacht, was die Betroffenen denken würden, wenn sie uns dabei gesehen hätten.

Iwata:

Sie waren besorgt, dass es den Leuten unangenehm sein könnte, wenn ein Auto voller Kameras an ihnen vorbei fahren und einfach Fotos machen würde.

Kawai:

Genau. Ich komme aus der betroffenen Stadt Sendai, und ich war mir da selbst nicht sicher. Aber nachdem wir mit vielen Leuten gesprochen hatten, dachten wir, dass wir die Einzigen wären, die das überhaupt leisten konnten, und dass wir deshalb die Verantwortung hätten, es auch zu tun. Und als wir erst angefangen hatten, haben sich unsere Befürchtungen auch nicht bewahrheitet. Die örtlichen Gruppen waren äußerst kooperativ und haben uns herzlich empfangen. Manchmal haben die Leute unseren Fahrern, die die Aufnahmen gemacht haben, sogar Satsumas und Reisbälle gegeben; da wollten sie die Fahrer dann anscheinend sogar motivieren.

Iwata:

Vielleicht haben sie auch geholfen, weil ihnen klar war, dass Sie die Fotos gemacht haben, um der Welt zu zeigen, was dort passiert ist.

Kawai:

Auf jeden Fall. Es gab - und gibt auch heute noch - die fortgesetzte Diskussion darüber, wie wir mit den Gebäuden verfahren sollten, die vom Erdbeben und dem Tsunami verwüstet worden sind. Es gab da geteilte Meinungen. Manche sagten, dass es jedes Mal schmerzhaft sei, sie zu sehen, aber alle waren sich trotzdem darüber einig, dass wir alles dokumentieren und für die Menschen zugänglich machen sollten. Also haben wir die Fotos veröffentlicht, die wir im Dezember 201119 gemacht haben. Das hat großen Anklang gefunden, und auch große Medienanstalten in Amerika haben darüber berichtet - die ganze Welt hat es gesehen.19. Fotos aus dem Dezember 2011 veröffentlicht: Ab Dezember 2011 zeigte Google im Rahmen des digitalen Archivprojekts zum großen Erdbeben in Ost-Japan 'Street View'-Bilder aus der Küstenregion von Tohoku und den anderen betroffen Gebieten um die größeren Städte. Auf ihrer Website "Memories for the Future" ("Erinnerungen für die Zukunft") sind Fotografien und Videos zur Ansicht verfügbar. In einigen der gezeigten Regionen kann man Bilder aus der Zeit vor und nach der Katastrophe betrachten.

Iwata:

Die Realität dieses Erdbebens, die kein Einzelfoto jemals komplett wiedergeben kann, ist durch die 'Street View'-Technologie erfahrbar geworden, mit der man sich so umsehen kann, als würde man vor Ort auf der Straße stehen. Ich kann mir vorstellen, dass das viele Leute auf der ganzen Welt tief bewegt hat.

Kawai:

Es ist ja nicht nur so, dass wir den jüngeren Generationen das Ausmaß der Zerstörung verdeutlichen möchten, sondern auch die Freiwilligen, die vor Ort geholfen haben, fragen sich bestimmt, wie es jetzt in den betroffenen Regionen aussieht. In jeder Person, die sich die Fotos ansieht, rufen sie andere Gefühle hervor. Durch diese Erfahrung wurde mir wieder klar, dass ich möchte, dass Street View ein Werkzeug wird, das für viele Leute auf unterschiedliche Arten nützlich ist.