4. Man muss es nur versuchen

Iwata:

Was waren die ersten Dinge, an denen Sie beide zusammen gearbeitet haben?

Alex:

Das waren Dinge wie Middleware11 und eine plattformübergreifende Echtzeit-3D-Engine12.11. Middleware: Diese Art von Software vermittelt zwischen dem Betriebssystem (OS) eines Computers und den Anwendungen, die verschiedene Funktionen zur Verfügung stellen.12. Plattformübergreifende Echtzeit-3D-Engine: Eine Spielentwickleranwendung, mit der aufwändige 3D-Grafik auf mehreren unterschiedlichen Spielplattformen dargestellt werden kann. Die Mitarbeiter von NERD gehörten zu den ersten Entwicklerteams, die den Bedarf für solche Anwendungen vorhergesehen und schon 1997 daran gearbeitet haben.

Iwata:

Zu dieser Zeit gab es Fachbegriffe wie "Middleware" und "plattformübergreifende Engine" noch gar nicht. Man wusste nicht, wie man das eigentlich nennen sollte, woran man gearbeitet hat; man wusste nur, dass es sehr nützlich sein würde. Es muss schwierig gewesen sein, auf diese Art Geschäfte zu machen, wenn man das eigene Produkt nicht wirklich erklären konnte, bis man es fertiggestellt hatte, und auch wenn wir es jetzt z. B. einfach eine plattformübergreifende Engine nennen, hatten wir damals eben noch gar keine Namen dafür.

Alex:

Ja. (lacht) Wir haben uns dann auch langsam Gedanken darüber gemacht, warum es so schwierig war, unsere Produkte zu verkaufen. Wir dachten, dass sie vielleicht aus technischer Sicht nicht gut genug waren, und deshalb haben wir immer weiter gearbeitet, um alles noch zu verbessern, aber mehr haben wir dadurch auch nicht verkauft. Schließlich sind wir aber doch darauf gekommen, dass es wahrscheinlich ein unternehmerisches Problem war. Es hat ziemlich lange gedauert, bis wir das verstanden haben.

Iwata Asks
Iwata:

Sie haben im technischen Bereich nach der Lösung für Ihr Problem gesucht und nicht an die Unternehmensstruktur gedacht. Ich hatte vor langer Zeit genau dasselbe Erlebnis. Obwohl ich mich nur ungern daran erinnere, weiß ich noch genau, dass Mr. Miyamotos13 Arbeiten sich viel besser verkauft haben als meine, und das habe ich nicht verstanden, weil ich dachte, dass meine Arbeiten technisch gleichwertig waren. Aber der technische Aspekt war nicht das einzige Problem. Das ist mir jetzt vollkommen klar, aber zu dieser Zeit habe ich einfach nur probiert, meine Arbeiten technisch noch weiter zu perfektionieren. Die Unternehmensgeschichte von Mobiclip nahm dann weiter ihren Lauf, und so gab es auch irgendwann eine Begegnung mit Nintendo. Ich glaube, dass war, als Sie Mr. Okada14 getroffen haben, nicht wahr?13. Shigeru Miyamoto, Senior Managing Director von Nintendo Co., Ltd.14. Satoru Okada, ehemaliger General Manager des Nintendo Research & Engineering Departments.

Alex:

Wenn ich mich zurückerinnere, fällt mir auf, dass wir wirklich jung und furchtlos waren und keine Grenzen für das gesehen haben, was wir erreichen könnten. Wir waren auf einer Messe in Großbritannien und hatten gerade die Spezifikationen des Game Boy Advance15 gesehen, der zu dieser Zeit veröffentlicht worden ist. Wir dachten, dass wir mit so vielen darstellbaren Farben auch Videosequenzen in die Software integrieren könnten. Wir waren nicht sicher, ob wir es schaffen würden, aber wir waren selbstbewusst genug, um an den Nintendo-Stand zu gehen und uns nach jemandem umzusehen, mit dem wir darüber sprechen konnten. (lacht)15. Game Boy Advance: Ein tragbares Videospielsystem, das in Japan ursprünglich im März 2001 veröffentlicht worden ist. Im Juni desselben Jahres erschien das System auch in Europa.

Jérôme:

Wir dachten, dass es eigentlich überhaupt keine Chance gibt, dass das zu irgendetwas führen könnte.

Alex:

Stimmt. Und dann habe ich jemanden gesehen, der etwas abseits herumgelaufen ist, aber doch scheinbar ein Mitarbeiter von Nintendo war. Es war ein Japaner, und auf seinem Messeausweis stand, dass er eine Art General Manager war; mir war also klar, dass er eine sehr wichtige Person sein musste. Dann bin ich losgegangen, habe mich vorgestellt und habe gesagt: "Wir denken, dass wir gemäß dieser Spezifikationen etwas Großartiges mit dem Game Boy Advance machen können. Bitte geben Sie uns einfach eine Chance, es Ihnen zu präsentieren!" Aber mein Englisch war wahrscheinlich nicht gut genug und ich habe bestimmt auch zu schnell gesprochen, weil ich so aufgeregt war, und deshalb hat Mr. Okada wohl nicht wirklich verstanden, was ich gesagt habe.

Iwata:

Und damals hatten Sie bestimmt auch noch einen viel stärkeren französischen Akzent als heute.

Alex:

Ich war also ganz schön enttäuscht. Aber er muss doch irgendetwas daran interessant gefunden haben, weil er mit zu unserem Stand gekommen ist. Die Kommunikation war auch da noch schwierig, deshalb habe ich einfach Zahlen auf einen Zettel geschrieben. Ich habe die Bildschirmauflösung des Game Boy Advance aufgeschrieben, dazu die Frame-Rate und die Bit-Zahl pro Pixel, und habe sie durch 100 geteilt. Ich wollte mit dieser Berechnung zeigen, wie stark man die Grafikdaten komprimieren kann. Als Mr. Okada diese Bruchzahl zusammen mit den Werten gesehen hat, muss er uns auf einmal verstanden haben, weil er plötzlich sagte: "Ah, ja! Das ist ja toll!" Die Bruchzahl hat also schon alles ausgedrückt.

Iwata:

Sie haben sich verbal nicht so gut verständigen können, deshalb haben sie über Zahlen kommuniziert?

Alex:

Wenn sich zwei Techniker begegnen, gibt es bei den Zahlen keine Sprachbarriere. Das ist eine universelle Sprache.

Iwata:

Das finde ich wirklich großartig. Sie waren sehr mutig, Mr. Okada überhaupt anzusprechen, aber Mr. Okada hat auch viel Mut gezeigt, als er Sie beauftragt hat. (lacht) Ich kann mich noch erinnern, wie Mr. Okada zurückgekommen ist und mir erzählt hat: "Ich habe einige interessante Leute in Frankreich kennengelernt und habe sie darum gebeten, an etwas zu arbeiten, um mal herauszufinden, was sie leisten können."

Alex:

Ich wusste gar nicht, dass er mit Ihnen über uns gesprochen hat. (lacht)

Iwata:

Am Anfang hieß die Firma noch Actimagine16, und ihr erstes Produkt für Nintendo war dieser Video-Codec17. Die Entwickler in Japan waren sehr überrascht, diesen Video-Codec auf der "sehr schwachen" CPU des Game Boy Advance laufen zu sehen. Mit "sehr schwach" ist gemeint, dass seine Architektur18 nicht sehr gut für die Ausführung solcher Aufgaben geeignet war. Wenn man einfach einen gewöhnlichen Video-Codec-Algorithmus19 verwendet hätte, hätte es nicht funktioniert.16. Actimagine: So hieß die Firma, bevor sie sich in Mobiclip und später in NERD umbenannt hat.17. Video-Codec: Ein Hardware- oder Software-Modul, das die Komprimierung und Dekomprimierung von Videodateien übernimmt.18. Architektur: Das Konzept hinter Design und Aufbau von Hardware und Software, das sich auf die Entwicklung von komplexen "High-Level" Programmen und Systemen auswirkt. Hier ist damit die Hardwarestruktur einer Videospielkonsole gemeint.19. Algorithmus: Eine Prozedur, mit der Computer bestimmte Prozesse ausführen.

Jérôme:

Zu dieser Zeit herrschte in der Industrie die einhellige Meinung, dass man Hardware benötigt, wenn man einen Video-Codec einsetzen möchte. Aber da wir keine Fähigkeiten bei der Arbeit mit Hardware hatten, wollten wir zeigen, dass wir es auch anders machen konnten.

Iwata:

Man könnte also sagen, dass Sie es genau deswegen geschafft haben, weil Sie so wenig Erfahrung damit hatten. (lacht) Wenn Sie auch gedacht hätten, dass es nicht möglich ist, hätten Sie es vielleicht gar nicht probiert. Aber Ihr Team dachte wahrscheinlich, dass sie es einfach probieren mussten, und deswegen war auch klar, dass sie eine Lösung finden würden. Sie haben sich mit Mr. Okada über Zahlen verständigt und Sie waren überzeugt davon, dass Sie es schaffen würden, wenn Sie es auf Ihre Art probieren würden.Ich denke, dass diese Energie auch heute noch in Ihrer Firma lebendig ist. Ich halte Sie für Leute, die Dinge möglich machen, die man im Allgemeinen für unmöglich hält.

Jérôme:

Als wir die Firma gegründet haben, haben uns viele Leute gesagt, dass wir damit keinen Erfolg haben würden, und dass die Firma scheitern würde. Wenn wir so etwas gehört haben, sagten wir einfach: "Wartet mal ab." Es ist einfach noch interessanter, sich mit einem Problem zu befassen, von dem die Leute denken, dass es unmöglich zu lösen ist. Dann ist man herausgefordert und geht an die eigenen Grenzen. "Das hat noch niemand geschafft, aber wenn ich mich anstrenge, schaffe ich es vielleicht. Wenn ich mich nicht einschüchtern lasse, sehe ich es vielleicht auch nicht als unmöglich an."

Iwata:

Sie gehen die Probleme also von zwei Seiten an: die Seite der Computer-Programmierung und die mathematische Seite. Dieser Ansatz ist eines der Elemente, das an NERD so interessant ist.

Iwata Asks