4. "Das ist kein einfaches Freundschafts-/Feindschaftsverhältnis."

Iwata:

Okay, dann machen wir jetzt mal einen ziemlichen Sprung: Wie kam es denn dazu, dass Sie gleich drei Spiele entwickelt haben?

Yamagami:

Um ehrlich zu sein: Als wir an Awakening gearbeitet haben, hatten wir eigentlich vor, daraus den letzten Teil der Spielreihe zu machen.

Iwata:

Ja ...

Yamagami:

Mr. (Shinji) Hatano28, der als Leiter der Vertriebsabteilung gearbeitet hat, sagte uns: "Die Fire Emblem-Reihe verkauft sich nicht so gut, dieses Spiel wird wohl der letzte Teil der Reihe sein." Und die Mitglieder des Entwickler-Teams sagten alle: "Okay, wenn dieses Spiel der letzte Teil wird, dann wollen wir dabei wirklich alles umsetzen, damit wir am Ende nichts zu bereuen haben." Dann haben wir eine lange Liste verschiedener Dinge gemacht, also: "Das und das würden wir gern machen", und das Ergebnis war dann Awakening.28. Shinji Hatano: Ehemaliger Senior Managing Director von Nintendo und Leiter der Vertriebsabteilung.

Iwata:

Ich kann mich erinnern wie Sie gesagt haben: "Wir werden ganz sicher gehen, dass wir nichts zu bereuen haben."

Yamagami:

Und das Spiel, das dabei herauskam, hat sich dann ziemlich gut verkauft.

Iwata:

Wir konnten ein großes Comeback feiern. Das Spiel wurde zum meistverkauften Teil der Fire Emblem-Reihe im Ausland.

Yamagami:

Richtig. Und dann sagte Mr. Hatano auf einmal etwas völlig anderes: "Wann kommt denn der nächste Teil raus?"

Iwata Asks
Iwata:

Obwohl er vorher gesagt hatte: "Das wird das letzte Spiel der Reihe." (lacht)

Alle:

(lachen)

Yamagami:

Wir fragten ihn: "Hm? Wir dachten, dass das der letzte Teil sein sollte?" Und er antwortete: "Klar, so funktioniert das im Vertrieb. Wenn sich etwas gut verkauft, dann fragen wir nach dem nächsten Teil." Also haben wir mit den Mitarbeitern von Intelligent Systems gesprochen und sagten: "Okay, jetzt sollen wir uns mit der Entwicklung des nächsten Teils beeilen."

Iwata:

Aber sie hatten Vollgas gegeben und den Tank komplett geleert.

Yamagami:

Richtig. Wir hatten schon alle unsere Ideen umgesetzt, also dachten wir nur: "Was sollen wir denn jetzt machen?"Also haben wir uns schnell Gedanken über neue Pläne gemacht, aber da wir alle schon so ausgebrannt waren, gab es keine Ideen, die wirklich einschlagend gewesen wären. Aber dann habe ich mich an etwas erinnert, und ich sagte zu Mr. Maeda: "Ach ja, da fällt mir ein, es gab doch noch eine Sache, die ich gerne gemacht hätte."

Iwata:

Und was war das?

Yamagami:

Im ersten Fire Emblem-Spiel29 konnte man sich entweder für Arran oder Samson30 entscheiden, je nachdem in welches Dorf man gegangen ist. Aber egal für welchen Charakter man sich entschieden hat, die Handlung hat sich dadurch nicht geändert. Als ich damals sagte: "Oh, es wäre doch toll, wenn das noch mehr Auswirkungen hätte", sagte mir mein Vorgesetzter: "Das geht aber nicht, wegen der Speicherplatzbeschränkungen."29. Im ersten Fire Emblem-Spiel: Fire Emblem: Shadow Dragon and the Blade of Light. Ein RPG-Simulationsspiel, das nur in Japan im April 1990 für das NES veröffentlicht wurde.30. Arran und Samson: Charaktere aus dem ersten Spiel der Reihe. Arran war ein Paladin, und Samson war ein Held. Man kann sich jeweils nur für einen der beiden Verbündeten entscheiden.

Iwata:

Das war noch zu Zeiten des NES.

Yamagami:

Ich erinnere mich, wie sinnlos mir das damals erschien, und ich sagte: "Mr. Maeda, möchten Sie nicht auch ein Spiel spielen, bei dem Sie erleben könnten, was passiert, wenn Sie sich für eine Seite entscheiden müssen? Das würde ich wirklich gern ausprobieren!"

Maeda:

(nickt mehrmals)

Yamagami:

Und dann dachte ich: Was wäre denn, wenn wir diese Spiele separat anbieten würden31, so dass die Leute schon Spaß an der Entscheidung hätten, welche Version sie haben möchten, und sich fragen müssten: "Wie soll ich mich entscheiden?" Ich war total begeistert, als ich mit Mr. Maeda darüber gesprochen habe, und sagte: "Das würde ich total gern machen!" Er antwortete: "Warten Sie mal!" Ein paar Tage später kam er zu mir und sagte: "Mr. Yamagami, ich stimme Ihrem Vorschlag komplett zu, dass wir zwei Spiele anbieten sollten - je nachdem, ob man sich Königreich A oder B anschließen will - aber ich finde, man sollte sich auch dafür entscheiden können, sich keinem der beiden Königreiche anzuschließen. Ich möchte also drei Spiele umsetzen."31. Separat anbieten: In Japan werden zwei Versionen des Spiels erscheinen. Details dazu, wie die drei Handlungsstränge in Europa verfügbar sein werden, werden im Lauf des Jahres 2015 bekanntgegeben.

Iwata:

Und deshalb wurde dann noch ein Spiel entwickelt.

Yamagami:

Ich antwortete: "Damit machen wir uns nur selber Schwierigkeiten." Aber dann sagte ich: "Die Idee, sich keiner Seite anzuschließen, finde ich aber wirklich gut. Lassen Sie uns das ausprobieren!"

Iwata:

Mr. Maeda, warum haben Sie sich für dieses Vorgehen entschieden, obwohl Sie doch wussten, dass Sie sich damit einige Schwierigkeiten einbringen würden?

Maeda:

Also, ich fand die grundlegende Entscheidung "Verbünde ich mich mit Seite A oder B" sehr interessant, aber als ich mich aus der Perspektive der Spieler damit beschäftigt habe, dachte ich, dass sie sicher auch die Möglichkeit haben wollen würden, sich keiner der beiden Seiten anzuschließen. Es ist ja auch eine spannende Frage, wie sich die Welt entwickeln würde, wenn das Schicksal nicht in der Hand einer der beiden Seiten liegen würde. Für mich lag es also nahe, drei Geschichten umzusetzen.

Iwata Asks
Iwata:

Sie haben Ihr Schicksal als Director der Spiele also im Interesse dieser Spiele akzeptiert.

Maeda:

Richtig. Und ich wollte dabei nicht nur ein paar Elemente verändern, sondern alle drei Geschichten sollten komplett anders sein; deshalb dachte ich dann: "Wir müssen auf jeden Fall genügend Material zur Verfügung stellen."

Iwata:

Und dann haben Sie Mr. Kibayashi darum gebeten, die Handlung zu schreiben.

Maeda:

Genau.

Yamagami:

Aber auch nachdem wir Mr. Kibayashi das Angebot gemacht hatten, die Handlung zu schreiben, war mir klar, dass das sehr viel Arbeit sein würde. Man hätte es natürlich so machen können, dass man im Kampf dieselbe Karte wiederverwendet, wobei die Armee der Seite A aus der einen Richtung kommt, und die Armee der Seite B aus der anderen Richtung, so dass man die Karte einfach umdrehen kann, um sich viel Arbeit zu sparen. Aber am Ende haben wir eigentlich nicht viele Inhalte wiederverwendet.

Iwata:

Sie haben also für alles neue Karten erstellt.

Maeda:

Richtig. Und die Handlungselemente haben wir auch nicht recycled.

Yamagami:

Wegen der Handlungselemente ... Zuerst dachte ich, dass Seite A und Seite B sich einfach als Gegner gegenüberstehen würden, aber das war dann nicht der Fall ...

Kibayashi:

Auch wenn man denkt, dass man sich der bösen Seite anschließt, sind da nicht alle böse. Und auf der anderen Seite ist bei den Guten auch nicht alles gut ...

Yamagami:

Die beiden Seiten sind also nicht einfach nur Spiegelbilder. Es ist mehr so, als ob man sie aus einem 45-Grad-Winkel betrachtet.

Iwata:

Wie meinen Sie das mit dem 45-Grad-Winkel?

Yamagami:

Damit meine ich, dass es kein einfaches Freundschafts-/Feindschaftsverhältnis ist. Es gibt auf beiden Seiten gute Menschen ...

Iwata:

Bei dieser Geschichte geht es nicht nur um Gut und Böse. Beide Seiten haben ihre Beweggründe, und aus allen Perspektiven scheinen sie auch gerechtfertigt zu sein ...

Yamagami:

Stimmt. Alle unsere Figuren sind einfache und gute Personen, die eine starke Überzeugung haben. Aber man muss sich für eine Seite entscheiden, es entsteht also ein echter Konflikt. Im Lauf der Handlung hat man auch immer ein schlechtes Gewissen, weil man sich gegen eine der beiden Seite stellen muss.

Iwata:

Mr. Kibayashi, worauf haben Sie das größte Augenmerk gelegt, als Sie die Geschichte geschrieben haben?

Kibayashi:

Ich wollte gerne erreichen, dass die Spieler irgendwann zumindest Tränen in den Augen haben.

Iwata:

Ich finde, dass sich die Welt von Fire Emblem besonders gut dafür eignet.

Kibayashi:

Ja, das bietet sich an. Und vor allem bei dieser Geschichte denkt man am Anfang: "Auf der einen Seite möchte ich mich beiden Königreichen anschließen, aber auf der anderen Seite möchte ich auch völlig neutral bleiben." Es war also ziemlich einfach, bestimmte Elemente zu integrieren, die die Spieler zu Tränen rühren, oder sehr ergreifend sind. Am Ende geht es um Verrat, und darum, eine Seite im Stich zu lassen.

Maeda:

Richtig. Weil man der Seite, für die man sich nicht entscheidet, dann als Gegner gegenüber steht.

Yokota:

Und deshalb treffen einen die Worte der Gegner auch sehr.

Yamagami:

Das stimmt wirklich.

Yokota:

Dann hört man: "Du hast uns verraten!"

Kibayashi:

Während ich die Geschichte geschrieben habe, habe ich mich immer mehr mit den Gefühlen des Protagonisten identifiziert, und dachte dann: "Ich habe etwas Schreckliches getan!" (lacht)

Alle:

(lachen)

Kibayashi:

Und wenn man diesen Verrat begehen muss, ist es auch etwas deprimierend, und man denkt: "Jetzt gibt es kein Zurück mehr für mich." Aber gleichzeitig hat man das Gefühl: "Ich muss irgendeine Lösung finden." Und ich glaube, dass man dadurch zusätzlich motiviert wird, das Spiel fortzusetzen.

Iwata:

Ich würde das Spiel dann auch gerne auf beiden Seiten erleben.

Kibayashi:

Ich glaube sogar, dass man dann alle drei Seiten der Geschichte erleben will. (lacht)