2. Viele Charaktere, viele Rollen

Iwata:

Das überrascht mich jetzt doch, zu hören, dass Link das Schloss möglicherweise gar nicht hätte verlassen können. Hatten Sie Ganons Schloss am Anfang der Entwicklung auch deshalb als einzigen Schauplatz angedacht, weil Sie daran zweifelten, dass Sie ein so riesiges Gebiet wie die Ebene von Hyrule erstellen könnten?

Miyamoto:

Ja. Ausgehend von den Verarbeitungskapazitäten der Hardware, wie ich sie bei „Super Mario 64“ erlebt hatte, schien mir das nicht möglich. Zuerst hatte ich gar nichts dagegen, das Spiel auf einem einzigen Gebäude aufzubauen, solange es uns gelänge, Link in 3D darzustellen. Das Endergebnis wäre möglicherweise etwas Ähnliches wie „Zelda II: The Adventure of Link“6 geworden. 6. Zelda II: The Adventure of Link: Ein Action-Abenteuerspiel, das in Japan im Januar 1987 für das Family Computer Disk System erschien.

Iwata:

Mr. Koizumi erwähnte, dass Sie bei „The Adventure of Link“ für das Super Famicom-System mit einem Polygon experimentiert haben.

Miyamoto:

Ja, stimmt. Auch deswegen dachte ich am Anfang, dass Ganons Schloss ausreichen könnte. Es gibt da beispielsweise einen Raum, indem man Phantom-Ganon bekämpft, nachdem dieser zu Pferd aus einem Bild heraus gesprungen kommt.

Iwata:

Ah, ja – der Bosskampf im Waldtempel.

Miyamoto:

Diese Szene gibt vielleicht einen Eindruck von meiner Ausgangsidee. Damals sagte ich zu den anderen Mitarbeitern: „So was wird es mindestens!“

Iwata:

Ah, verstehe. Jetzt, da Sie das sagen, kann ich das nachvollziehen – der Kampf gegen Phantom-Ganon spielt sich auch in einem Raum ab. Mr. (Toru) Osawa hat mir übrigens erzählt, dass eine der frühen Aufgaben darin bestand, Schwertkämpfe im Chanbara-Stil (theatralischer japanischer Stil) zu entwickeln.

Miyamoto:

Stimmt. Ich überlegte, ob Einzelkämpfe möglich wären, und begann mir schon früh in der Entwicklungsphase Fragmente wie den Kampf gegen Phantom-Ganon auszudenken. Und ich testete Steuerungen, mit denen Link sein Schwert in verschiedene Richtungen schwingen konnte.

Iwata:

Sie haben das Spiel wie ein Puzzle zusammengesetzt.

Iwata Asks
Miyamoto:

Ja, so könnte man sagen. Und es gelang uns im Lauf der Erstellung, Link über ein weites Gebiet wandern zu lassen, so eine Art Grasland.

Iwata:

Haben Sie dieses weite Land geschaffen, weil Sie Link auf ein Pferd setzen wollten?

Miyamoto:

Ja. Mr. Koizumi hat das Pferd erstellt. Aber ein weites Gebiet, über das man mit dem Pferd reiten konnte, verlangsamte den Entwicklungsprozess, daher strichen wir die Sache erstmal wieder. Aber als ich nach einer Weile wieder zum Produktionsteam stieß, trat ich eine Riesenkampagne zum Erhalt des Graslandes los! (lacht)

Iwata:

Ach! (lacht)

Miyamoto:

Wir probierten zunächst, ob es möglich wäre, zwei Pferde gleichzeitig in der Ebene zu haben. Wenn uns das gelänge, könnten wir andere Spielarten für das Grasland erstellen, dachten wir. Das klappte prima, also haben wir ein Demovideo mit den zwei Pferden gemacht und dieses auf der Nintendo Space World7 vorgeführt. Danach sagte ich: „Jetzt haben wir es vorgestellt – es gibt kein Zurück mehr!“ (lacht) 7. Nintendo Space World: Eine Videospiele-Messe (in Japan), die in unregelmäßigen Abständen von Nintendo abgehalten wird und inzwischen den Namen „Nintendo World“ trägt. Das Demovideo für „The Legend of Zelda: Ocarina of Time“ mit den zwei Pferden wurde auf der Nintendo Space World 1997 vorgestellt.

Iwata:

Damit haben Sie sich selbst unter Zugzwang gesetzt! (lacht)

Miyamoto:

Allerdings. (lacht)

Iwata:

Sie waren auch derjenige, der unbedingt den jungen Link zeigen wollte, oder?

Miyamoto:

Ja. Die Arbeit stapelte sich an allen Ecken und Enden, aber ich bestand darauf, den jungen Link zu präsentieren. Ich glaube, das hat den anderen Entwicklern einige Probleme bereitet. (lacht)

Iwata:

Ja, den Eindruck hatte ich auch! (lacht)

Miyamoto:

Als Mr. Koizumi mir seinen erwachsenen Link zeigte, fand ich den schon ganz cool, aber ich sagte: „Ich will das nicht ohne den jungen Link machen!“ Und dann haben wir getestet, ob wir sowohl den erwachsenen als auch den jungen Link verwenden könnten.

Iwata:

Mr. Koizumi bastelte am System herum und dann konnten Sie die Bewegungen des erwachsenen Link auch für seine junge Version verwenden.

Miyamoto:

Genau. Dank dieser Basteleien konnten wir auch den jungen Link einsetzen.

Iwata:

Warum haben Sie derart auf dem jungen Link beharrt?

Miyamoto:

Link ist ein Junge. Im ersten Spiel, „The Legend of Zelda“8, war er etwa 12 Jahre alt. In „Zelda II: The Adventure of Link“ war er ungefähr 16, aber ich hatte ihn nie als nur irgendeinen weiteren coolen Helden angesehen. Bis zu „The Legend of Zelda: Ocarina of Time“ war Link ein verspielter und kindlicher Charakter. 8. The Legend of Zelda: Ein Action-Abenteuerspiel, das im Februar 1986 gleichzeitig mit dem Family Computer Disk System in Japan herauskam.

Iwata:

Aber offenbar hat Mr. Koizumis Frau ihn während der Entwicklung von „The Legend of Zelda: Ocarina of Time“ gefragt, warum es bei Nintendo eigentlich keine attraktiven Figuren gäbe; also hat er Link zu einem gut aussehenden Kerl gemacht. Das hat mir Mr. Koizumi selbst erzählt. (lacht)

Miyamoto:

Stimmt. (lacht) Aber ich war von Anfang an an allen Zelda-Spielen beteiligt, und ich dachte, wenn er plötzlich zu cool wäre, wäre er eben nicht mehr Link. Andererseits sollte Link natürlich auch nicht gänzlich uncool sein. Also beschlossen wir, sowohl den erwachsenen als auch den jungen Link zu verwenden. Er wächst nicht nur, was seine statistischen Werte angeht – wie in einem RPG –, sondern entwickelt sich auch in seinem Aussehen. Als wir das umsetzten, sprudelten die Ideen plötzlich nur so.

Iwata Asks
Iwata:

Es entstanden mehr und andere Ideen, als das Spiel plötzlich nicht mehr nur auf dem erwachsenen Link beruhte.

Miyamoto:

Genau. Als wir beschlossen, dass Link sich von einem 9-jährigen zu einem 16-jährigen entwickeln sollte, plante ich, viele andere Charaktere unterschiedlichste Rollen erfüllen zu lassen. Methusa ist beispielsweise eine Großvaterfigur, die Link alle möglichen Ratschläge erteilt und auf ihn aufpasst. Und da Link ein Junge ist, wollte ich auch Mädchen außer Prinzessin Zelda haben.

Iwata:

So entstanden Salia und Malon.

Miyamoto:

Ja. Und da Ganon Links Erzfeind ist, fand ich, dass die beiden zumindest einmal aufeinandertreffen sollten, solange Link noch ein Kind ist.

Iwata:

Deshalb gibt es die Szene am Anfang, in der Link einen Albtraum hat.

Miyamoto:

Genau. Diese stellt die Verbindung zur Szene im Schlosshof dar. Die unschuldigen Augen eines Kindes können die Wahrheit erkennen; der junge Link weiß daher instinktiv, dass Ganon ein übler Geselle ist. Als der erwachsene Link erneut auf Ganon trifft, erkennt dieser ihn als den Jungen von vor all den Jahren. Dieser Moment ist wirklich beeindruckend. Man ist richtig geschockt.

Iwata:

Allerdings! (lacht)

Miyamoto:

Man denkt sich: „Stimmt – ich bin ja das Kind von damals!“ Es hat mir wirklich viel Freude gemacht, diese Szene einzubauen.

Iwata:

Sie erstellen Spiele auf der Grundlage von Funktionen, somit sprechen Sie nicht allzu oft über die Geschichte oder die dramatische Interpretation der Handlung. Aber ich habe den Eindruck, dass „The Legend of Zelda: Ocarina of Time“ möglicherweise eine Ausnahme darstellt.

Miyamoto:

Bei der Entwicklung ging mir auf, dass ich nicht so sehr eine Geschichte erzählen, als vielmehr jede Menge Personen um den Hauptcharakter erscheinen lassen und deren Beziehung darstellen wollte. Vor einigen Jahren war eine Fernsehserie namens „Twin Peaks“9 sehr beliebt. Als ich das einmal schaute, bemerkte ich, dass das Interessanteste nicht etwa die Irrungen und Wirrungen der Handlung waren, sondern die Figuren, die auftraten. 9. Twin Peaks: Eine Fernsehserie, die von 1990 bis 1991 in den USA ausgestrahlt wurde. In Japan lief sie 1991 im Fernsehen.

Iwata:

Oh, Mr. (Takashi) Tezuka hat in unserem „Iwata fragt“-Gespräch zu „The Legend of Zelda: Spirit Tracks“10 genau dasselbe gesagt. 10. The Legend of Zelda: Spirit Tracks: Ein Action-Abenteuerspiel, das im Dezember 2009 für das Nintendo DS-System erschien.

Miyamoto:

Ach, tatsächlich?

Iwata:

Mr. Tezuka sagte den Mitarbeitern von „The Legend of Zelda: Link’s Awakening“11, dass er eine Reihe verdächtiger Charaktere haben wollte, so wie in „Twin Peaks“. 11. The Legend of Zelda: Link’s Awakening: Das erste Spiel der Zelda-Serie für das Game Boy-System; es erschien in Japan im Juni 1993. Im Dezember 1998 wurde in Japan die Neuauflage „The Legend of Zelda: Link's Awakening DX“ für das Game Boy Color-System herausgebracht. „The Legend of Zelda: Link's Awakening DX“ steht in Europa seit dem 8. Juni 2011 zum Herunterladen im Nintendo eShop zur Verfügung.

Miyamoto:

Ja, stimmt. Ich finde, diese verdächtigen, seltsamen Gestalten sind ganz allein schon interessant. Ihr Vorhandensein interessiert mich mehr als die Tatsache, wer wessen Vetter ist oder wessen Eltern in der Vergangenheit verfeindet waren.

Iwata:

Sie interessieren sich nicht besonders für den Hintergrund der Charaktere. (lacht)

Miyamoto:

Nein. Für mich ist wichtig, welche Rolle eine Figur spielt und wie sie dazu beiträgt, den Hauptcharakter zu porträtieren.

Iwata:

Stimmt – Sie wollen nicht so sehr eine Geschichte erzählen, als viel mehr die Charaktere in ihrer Funktion bei der Darstellung des Hauptcharakters zeigen. Es ist wohl typisch für Sie, dass Sie vor allem darauf achten, wie die Dinge funktionieren.

Miyamoto:

Mr. Osawa, der Skriptverantwortliche, machte jede Menge Vorschläge, z. B.: „Wie wäre es mit einem Charakter, der so und so funktioniert?“ Mr. Koizumi und Mr. (Yoshiki) Haruhana entwarfen dann schnell das Erscheinungsbild dieser Charaktere, und dabei habe ich auch manchmal mitgeholfen. Über die Geschichte habe ich bei „Ocarina of Time“ kaum je gesprochen.

Iwata:

Das hat auch Mr. (Eiji) Aonuma gesagt. Er meinte, obwohl viele Leute sich begeistert über die epische Handlung äußern, ist diese, was das Skript angeht, im Grunde gar nicht besonders episch. Sie wirkt episch, weil alles, was man im Spiel erlebt, zur Geschichte hinzukommt.

Iwata Asks
Miyamoto:

Genau. Die Erfahrungen, die die Spieler bei Begegnungen mit Personen in der Spielwelt machen, summieren sich und wirken irgendwann selbst wie eine Geschichte.

Iwata:

Und das Lösen der Rätsel ist noch mal eine andere Erfahrung.

Miyamoto:

Ja, das glaube ich auch.